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Der Weg einer Frau

  • sveahoehlein
  • 28. Apr.
  • 5 Min. Lesezeit
„Der Weg einer Frau“ prangt auf dem Banner über der Tür. Es ist der Titel der Ausstellung. In dem Flyer stand, die Ausstellung hätte etwas Magisches und könne den Lebensweg jedes Menschen wiederspiegeln. Diese Aussage hatte meine Neugier geweckt, weshalb ich jetzt vor dem Museum stehe, unschlüssig, ob ich hineingehen soll. Bevor ich länger darüber nachdenken kann, gehe ich die Treppe zum Eingang hinauf und betrete das Museum. Ich bezahle den Eintritt und betrete den ersten Raum. Der Raum wirkt hell und freundlich. Es hängen einige Bilder an der Wand, von Landschaften und Städten. Ich erkenne einige. Es sind alte Wohnorte, an denen ich bereits gelebt und einen Teil meines Lebens verbracht habe. Ich bleibe vor einem Gemälde stehen, dass einen Ort zeigt, der so gleich Fluch und Segen für mich gewesen war: meine Schule. Sie war meine dritte und noch nicht letzte Schule gewesen, bevor ich endlich meinen Abschluss gemacht hatte. Ein Lächeln umspielt meine Lippen, als ich mich an die ersten Jahre erinnere, die ich dort verbracht hatte. Mein Klassenlehrer, der mich immer sah und mir das Gefühl gab, richtig zu sein, wie ich war. Meine Klasse, die aus einem bunten Haufen aus Verschiedenheiten, Individualität und Gemeinsamkeiten bestanden hatte. Meine Freunde, die so verrückt waren wie ich und Klassenfahrten, die Erinnerungen fürs Leben bildeten und Geschichten, die ich noch in 50 Jahren erzählen wollte. Doch als ich an die Oberstufe denke, verschwindet mein Lächeln. Die Schule hat auch einige Narben auf meiner Seele hinterlassen, an die ich lieber nicht mehr denken will. Bevor ich mich in düsteren Gedanken verfange, gehe ich weiter in den nächsten Raum.
Mir strahlt ein leuchtendes Rot entgegen, das von der Decke zu laufen scheint. Dieser Wasserfall in Rot fließt aus einer Weinflasche an der Decke direkt in das Bild, das an der Wand hängt. Dort fließt der Bach weiter in ein riesiges Glas. Ich gehe näher an das Gemälde heran und betrachte das Glas. Auf dem Rand entdecke ich ein Mädchen, höchstens 17 Jahre alt. Ihre braunen Haare flattern im Wind. Ihre Arme sind ausgebreitet, so dass es scheint, als würde sie auf dem Glasrand balancieren. Ich sehe noch genauer hin und erkenne, dass das Mädchen ihre Augen angsterfüllt aufgerissen hat und einen stillen Schrei auszustoßen scheint. Dann sehe ich, dass ihr Fuß gar nicht, wie zuerst angenommen, auf dem Rand des Glases steht, sondern neben dem Glas schwebt und ihre Arme nicht mehr zum Ausbalancieren ausgestreckt sind, sondern verzweifelt nach Halt suchen. Das Mädchen fällt in den Abgrund, in das sich weiter füllende Weinglas. Mir läuft ein Schauer über den Rücken, als ich daran denke, dass das Mädchen in dem Weinglas ertrinken wird, wenn ihr keiner hinaushilft. Doch ich kann keine anderen Personen auf dem Gemälde erkennen, das Mädchen wird in den Fluten des Weins ertrinken. Schützend halte ich meine Hände über das Gemälde, will den Weinstrom stoppen, doch es gelingt mir nicht. Egal wie ich meine Hände halte, der Wein findet seinen Weg durch meine Finger oder über meine Hände hinweg ins Glas. Ich wende mich ab, in meinem Hals hat sich ein Kloß gebildet, ich kann dem Mädchen nicht helfen. Schnell gehe ich in den nächsten Raum.
Im nächsten Raum empfängt mich eine völlige Dunkelheit, welche sofortiges Unbehagen in mir auslöst. Ich taste mich an der Wand entlang, setze vorsichtig einen Fuß vor den anderen, bis sich meine Augen an die Lichtverhältnisse angepasst haben. Ich nehme zuerst an, in diesem Raum kein Gemälde vorzufinden, doch an der Wand hängt etwas. Langsam gehe ich darauf zu, setze weiterhin langsam einen Fuß vor den anderen. Ich erwarte beinahe jeden Moment in der Dunkelheit gegen etwas zu stoßen, zu stolpern oder schlimmeres. Als ich endlich die andere Wand erreiche, erkenne ich das Gemälde an der Wand. Es zeigt eine karge, weite Landschaft. Ich erkenne Berge am Horizont, die unerreichbar wirken. Doch ansonsten scheint es wenig in der Landschaft zu geben, nur graue, endlose Weite. Mittendrin steht jemand. Ich muss noch näher an das Gemälde heran, um die Person erkennen zu können. Es ist das gleiche Mädchen, wie auf dem letzten Gemälde. Sie wurde bloß skizziert, doch man kann sie dennoch erkennen. Das Mädchen steht in der Ebene, hat den Kopf gesengt. Ihr Körper strahlt Hoffnungslosigkeit aus. Selbst ihre Haare hängen flach von ihrem Kopf herab, farb- und kraftlos. Die Szene schnürt mir die Kehle zu. Sie wirkt so verloren und ich will ihr Instinktiv helfen und sagen, dass noch so viel auf sie wartet. Sie ist doch noch so jung. Doch sie ist für mich unerreichbar.
Als ich den nächsten Raum betrete, muss ich mich an der Wand festhalten. Ich habe das Gefühl, der Raum würde sich drehen und als würden sich gleichzeitig die Wände auf mich zu bewegen. Nach einiger Zeit kann ich die optische Täuschung ertragen und dann auch durchschauen. Ich sehe mich nach dem Ursprung der Täuschung um und entdecke das nächste Gemälde. Auch in diesem ist das Mädchen zu sehen. Es sitzt an eine Wand gelehnt, die Knie angewinkelt, worauf sie ihren Kopf abgelegt hat. Ihre Hände haben sich schützend über ihren Kopf gelegt, als hätte sie Angst, die Decke würde ihr auf den Kopf fallen. Seit dem letzten Gemälde scheint sich etwas geändert zu haben. Ihre roten Haare leuchten mir entgegen, doch ansonsten strahlt ihr Körper eine Hoffnungslosigkeit aus, die mir einen Schauer über den Rücken jagt. Dieses Gefühl, das sie ausstrahlt, wirkt so endgültig. Als könnte ihr nichts und niemand auf der Welt mehr helfen. Ohne dass ich es gemerkt habe, ist mir eine Träne die Wange heruntergelaufen und tropft nun von meinem Kinn auf den Boden. Eine weitere folgt ihr und bevor ich mich nicht mehr beherrschen kann, wende ich mich ab und verlasse den Raum.
Der nächste Raum ist leer. In der Mitte steht eine Bank, auf welche ich mich erleichtert setze. Ich bin dankbar für die kurze Unterbrechung. Die Eindrücke der letzten Räume lasten auf meinen Schultern, mein Atem geht schwer. Ich muss mich zusammenreißen und tief durchatmen, um mich zu beruhigen und die Fassung wiederzuerlangen. Der Titel der Galerie hat nicht zu viel versprochen. Ich habe das Gefühl, das ganze Leben einer Frau vor mir zu sehen, die noch sehr jung ist und trotzdem so viel Schmerzen ertragen musste. Noch einmal atme ich tief durch und trockne meine Tränen. Ich denke darüber nach, was mich wohl noch erwartet. Was hatte dieses Mädchen, welches sich vor meinen Augen langsam zu einer Frau entwickelt, noch erdulden müssen?
Wieder erwarten ist der nächste Raum hell und freundlich. Die Last, die sich in den letzten Räumen auf meine Schultern gelegt hat, fällt von mir ab. Ein Gefühl des Zufriedenseins und der Erleichterung überkommt mich, ein innerer Frieden breitet sich in mir aus. Direkt mir gegenüber hängt das letzte Bild der Galerie. Das Mädchen, welches ich bisher immer in den Gemälden gesehen hatte, schaut mir geradewegs in die Augen. Sie ist älter, auf eine Art reifer. Ihre Augen blicken nicht mehr ausdruckslos ins Leere, sondern leuchteten vor Lebenslust. Es scheint, als würde sie mir Kraft geben wollen, trotz der schrecklichen Szenen, in denen ich sie zuvor gesehen hatte. Ich mache einen Schritt auf das Gemälde zu und erschrecke, als sich die Frau ebenfalls bewegt. Es ist, als hätte jemand ein Stückchen weiter an die Frau herangezoomt. Ich mache noch einen Schritt vorwärts und noch einen. Es ist keine Einbildung, die Frau in dem Bild bewegt sich mit mir. Dabei sieht sie mich mit einem Blick an, als würde sie direkt durch meine Augen in meine Seele sehen. Als ich noch einen Schritt auf das Gemälde zugehe erkenne ich, dass es sich gar nicht, wie angenommen, um ein Bild handelt. Es ist ein Spiegel. Die Frau, die ich durch die Bilder auf ihrem Lebensweg bis hierher begleitet habe, mit der ich zusammen litt, die ich in diesem Moment für ihre Stärke bewundere, bin ich. Ich selbst sehe mir geradewegs durch meine eigenen Augen in die Seele.
 
 
 

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