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Anders

  • sveahoehlein
  • 13. Nov. 2024
  • 2 Min. Lesezeit
„Irgendwie bist du anders“. Ein Kompliment, das mir wie ein Messerstich ins Herz fährt. Er meinte es nur nett, dass weiß ich. Aber er scheint nicht zu wissen, was diese Worte anrichten können. Was sie in mir auslösen. In weiter Ferne höre ich ihn weiter Reden. Über irgendetwas, dass er gestern erlebt hat. Doch in meinem Kopf wirbeln Bilder durcheinander, begleitet von einem Meer aus Stimmen. Sie schwellen an, nehmen jeglichen Platz in meinem Kopf ein und plötzlich bin ich wieder sieben Jahre alt, sitze auf einem ungemütlichen Holzstuhl in einer Klasse und höre meiner Lehrerin zu, wie sie mich demütigt. Wie sie immer wieder auf mir herumhackt und meine unschuldigen, naiven Mitschüler*innen ihr zustimmen und sie bekräftigen. Sie konnten nichts dafür, auch sie waren noch so jung. Keiner meiner Mitschüler*innen konnte damals durchblicken, was dort gerade geschah. Sie konnten nicht wissen, dass sie das Messer mit jeder Bestätigung weiter in mein Herz trieben, obwohl doch eigentlich nur meine Klassenlehrerin zugestochen hatte.
Weitere Stimmen schallen durch meinen Kopf. Sie befördern mich einige Jahre weiter. Ich bin jetzt etwa 15 Jahre alt und anders sein hat ein ganz neues Ausmaß angenommen. Anders sein bedeutet plötzlich, nicht mehr dazuzugehören. Eine Außenseiterin sein, weil ich lieber Musik mache und lese, als nach der Schule noch zum Zirkustraining zu gehen. Ich bin anders, weil ich weiß, was ich will und die meisten anderen nicht wussten, was sie mit ihrem Leben später machen wollten. Ich bin eine Ausgestoßene, weil ich offen mit meinen Gefühlen umgehe, aus ihnen heraus handle und mich nicht hinter einer Fassade aus Lügen und Falschheit verstecke. Ich bin anders, weil ich nicht alles hinnehme, was Lehrer*innen sagen, sondern es hinterfrage und dagegen angehe, wenn ich es für falsch halte. Ich bin merkwürdig, weil ich noch immer gerne Neues lerne und meine Kreativität mit einbringe, wo es nur geht. Ich bin Anders, weil die anderen es so wollen. Ab jetzt bin ich halt Anders. Sonst nichts, nur Anders…

Eine neue Szene erscheint vor meinen Augen. Ich bin nur ein paar Jahre älter und sitze auf einer Bank im Flur des Schulgebäudes. Eigentlich sollte ich in der Klasse sitzen, aber das ertrage ich gerade nicht. Ich will nur Lesen, Musik hören, trinken, lachen und schreien. Mein Anderssein hat mich an den Rand der Gesellschaft und meines Verstandes katapultiert.

Verstohlen wische ich mir eine Träne von der Wange. Ich habe lange aufgehört mitzuzählen, wie oft ich schon Anders war. Wie oft ich versucht habe, mich erneut anzupassen. Wie oft ich mich selbst aufgegeben habe, um nicht mehr anders zu sein. Wie oft ich mein Äußeres, mein Verhalten und meine Persönlichkeit versucht habe zu verändern, nur um einmal dazuzugehören. Und jetzt bin ich wieder anders. Nach all der Arbeit, immer noch anders. Doch jetzt ist es plötzlich ein Kompliment?

 
 
 

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