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Tagebuch einer Verstoßenen

  • sveahoehlein
  • 6. März 2023
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 28. Apr.

Tag 1

Ich bin gerne draußen. Der Wind in den Haaren,Sonnenstrahlen auf der Haut. Das Amphitheater strahlt in ihrem Licht, die Steine erwärmen sich. Wärme, die den Körper flutet. Die Vögel singen. Sie singen vom Sommer, von Lebensfreude und Frieden. Dieser Ort strahlt eine wohltuende Ruhe aus. Hier kann ich endlich wieder durchatmen. Hier kann ich vergessen.
Touristengruppen stören diesen Frieden. Sie lärmen. Ohne Rücksicht. Lassen ihren
Müll liegen, ohne einen Gedanken an die Zerstörung der Schönheit des Theaters zu denken. Wertlose Sachen, ein Haufen Überreste ihrer Leben.Weggeworfen.


Tag 2

Heute Nacht gab es eine Party. Von meinem Hotelfenster aus konnte ich sie sehen. Betrunkene,
grölende Jugendliche auf den Steinen des Amphitheaters. Die leeren Flaschen lassen sie achtlos auf den Treppenstufen stehen. Trinken, Feiern, Vergessen.
Ich kenne das Gefühl. Auch ich will tanzen. Im Kreis drehen und vergessen. Gesichter
verschwimmen lassen, Gefühle ertränken. Ich darf nicht. Der Gedanke sollte mir Halt geben,
doch er nagt an mir. Nicht dürfen. Diese Worte lösen einen bitteren Geschmack aus. Wer entscheidet das? Ich bin alt genug. Entscheidungen für mich treffe ich selber. Das kann sonst keiner. Ich weiß, ich sollte Acht geben. Will ich aber nicht. Ich will nur leben. Frei sein. Nicht vorsichtig.

Tag 3

Es ist sonnig. Menschenmaßen drängen sich auf der Bühne. Touristen verschiedener Länder.
Alle hören ihm zu. Er ist regelmäßig hier, schlägt Profit aus der Neugier anderer. Ich sitze und
beobachte. Lass meine Gedanken schweifen. Vorbei an Erinnerungsfetzen, an meiner Vergangenheit. Es tut weh. Das muss es. Ohne Schmerz würde ich nicht leben. Kein Leben existiert ohne Schmerz. Der Mann winkt die Gruppe weiter. Sie folgen ihm, wie Schafe ihrem Hirten. Ich wende mich der Sonne zu. Sie wird die Dunkelheit vertreiben. Das muss sie. Denn ohne diese Verdrängung werde ich es nicht mehr lange schaffen.

Tag 4

Er ist wieder hier. Seine Touristen zerstören die Stille, meine Zufllucht des Vergessens. Wieder scheint die
Sonne, es ist stickig. Mücken summen, lassen mich nicht in Ruhe. Wie er. Er lässt auch nie
locker. Vorhin schrieb er mir erneut. Ich ignoriere es. Gebe ich ihm eine Chance, kann ich sie
mir selbst nicht mehr schenken. Aber ich brauche sie. Drei wertvolle Jahre verbrachte ich mit
dem Egozentriker. Mehr kann ich nicht geben. Will ich auch nicht. Die Touristen verlassen das
Theater. Wieder Stille. Doch jetzt sind meine Gedanken zu laut. Die wohlverdiente Ruhe bleibt aus.
Laut. Das war es bei ihm auch immer. Nur dieses eine mal nicht. Da war es schmerzlich still.
Dafür hasse ich ihn. Oder ist das zu hart? Trage ich nicht auch Schuld daran? Diese Frage kann ich nicht beantworten. Meine Erinnerungen reichen nicht aus. Die Schwärze frisst die
Details. Schwärze, die mir Frieden verschaffen sollte. Doch ich spüre nur Ungewissheit,
Zweifel. Die Frage "Was, wenn...?", nagt an mir.

Tag 5

Es riecht nach Regen. Meine Kleidung ist nass. Der Touristenführer bringt mir eine Decke.
Vielleicht ist er gar kein so schlechter Mensch. Wahrscheinlich kämpft er selbst nur ums
Überleben. Überleben, dass versuchen viele. Reicht es nicht zu leben? Solange man lebt,
kann man auch überleben. Hab ich mal gehört. Wurde mir gesagt, als ihr Sarg zur Tür hinaus
getragen war. Lebe für sie, sie hätte es so gewollt. Woher will ein fremder Menschen das
wissen? Kein Mensch den ich kenne, würde wollen, dass jemand anderes an seiner Stelle sein Leben weiterlebt. Wie lebt man für einen toten Menschen? Sie hätte lieber selbst gelebt. Sie hat lange
gekämpft. Die Welt war stärker. Der Tod gewann ihren Kampf.

Tag 6

Mein Herz schlägt schnell. Der Schrecken des Traumes sitzt mir noch in den Gliedern. Eben
noch geschrien, jetzt herrscht Stille. Totenstille. Kein Tourist, der die Ruhe stört. Meine Seele
versucht noch zu verarbeiten. Einen Teil verdrängen, einen einsortieren. Bis das Puzzle schön
wirkt. Nicht genau hinsehen, sonst verfliegt die Wirkung. Die Lüge wäre erkennbar und doch
unvollständig. Eine Illusion, die ich immer und immer wieder herstelle. Meine Seele kann nur verarbeiten, was meine Gedanken preisgeben. Doch die Teile sind nicht vollständig. Einige sind unkenntlich. Geschwärzt. Als hätte jemand meine
Erinnerung zensiert. FSK 12.

Tag 7

Die Touristen sind wieder da. Durchbrechen die Stille. Ich mag keine Menschenmassen. Ich
mag die Ruhe. Stille ohne Stimmen. Nur selten erdrückt sie mich. Menschen erdrücken mich ständig. Menschen urteilen.
Schauen mich an und setzen ihren Stempel drauf. Asozial. Faul. Arm. Anders. Das ist die
Schublade für alle, die sich sonst nicht einordnen lassen. Ich bin gern anders. Keiner
erwartet, dass ich etwas Bestimmtes bin. Solange ich zu Sonstiges passe, kann ich machen,
was ich will. Frei nach Belieben. Heute hü, morgen hot. Ein lauter Knall. Er unterbricht meine
Gedanken. Einer der Touristen hat sein Handy fallen lassen. Er schimpft. Im Glas ist jetzt ein
Riss. Das kann man austauschen. Das ist kein Problem. Nicht wie bei einem Menschen. Lässt
du ihn fallen, entstehen Risse auf der Seele. Irreparabel.

Tag 8

Sie schreit. Laut und durchdringend. Ein Laut, der mir durch Mark und Bein geht. Ich nehme
sie auf den Arm. Wiege sie hin und her. Versuche sie zu beruhigen. Ich singe ein Lied, beschütze sie. Aus ihren blauen, unschuldigen Augen rinnt Blut. Ich will sie trösten, beruhigen. Doch ich kann nicht. Ein Auto hupt, ich schrecke hoch. Meine Albträume verfolgten mich seit Wochen. Ich zittere. Mein Herz schlägt zu
schnell. Eine Träne rinnt mir über die Wange. Und eine zweite. Ich würde schreien, wenn die
Touristengruppe nicht wäre. Ich weine. Mein Körper zittert. Meine Seele krallt sich an einen
einzigen Gedanken: „Es war besser so!“


Tag 9

In der Ferne rauscht ein Bach. Vögel singen. Friedlich. Heute sind keine Störer der Ruhe zu
sehen. Nur ich und die Natur. Mein Atem geht ruhig. Ein einzelner Tourist. Er fotografiert das
Theater. Tote Steine, Ruinen. Behaftet von Jahrhunderte alten Geschichten. Er schaut zu mir.
Mein Herz setzt einen Schlag aus. Blond, blaue Augen, schlanke Statur. Unmöglich. Er kann es
nicht sein. Das darf er nicht. Mein Herz rast, Schweiß läuft mir die Stirn hinab. Er verlässt das
Theater. Als wäre nichts geschehen. Er war es nicht, sagt mein Verstand. Mein Herz schiebt
Panik. Ich kann mich nicht wehren. Flutwellen von Gedanken. Mein Puls rast. Zuckende
Gliedmaßen, unkontrollierbar. Ich krieg keine Luft. Er war es nicht, er war es nicht, er war es
nicht. Mein Mantra, bestehend aus Hoffnung. Keine Garantie auf Wahrheit.


Tag 10

Im Theater bleiben die merkwürdigsten Sachen liegen. Bierdeckel, Klamotten,
Kippenstummel, Regenschirme. Heute fand ich sogar eine Klinge. Sie ist scharf. In jedem
Gegenstand steckt Geschichte. Erinnerungen an vergangene Tage. Es tröpfelt. In einer Ecke
bildet sich eine Pfütze. Das Wasser spielt eine Melodie. Aufschlagende Tropfen auf Stein.
Dreck sammelt sich in der Pfütze. Eine trübe Suppe. Ich nehme die Klinge. Vermische meine
Geschichte mit anderen. Der Regen spült die Geschichten in die Fugen des Theaters.
Jahrhunderte alte Geschichten, ergänzt durch eine weitere.

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